
Rente mit 70: Wenn die CDU-Wirtschaftsministerin die Lebensarbeitszeit verlängern will
Die neue Bundeswirtschaftsministerin Katharina Reiche sorgt für erheblichen Wirbel in der Großen Koalition. Mit ihrer Forderung nach einem höheren Renteneintrittsalter bringt die CDU-Politikerin nicht nur den Koalitionspartner SPD gegen sich auf, sondern zeigt auch, wie weit sich die deutsche Politik von den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung entfernt hat.
Der Vorstoß aus dem falschen Ministerium
Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Dreistigkeit sich Reiche in Politikbereiche einmischt, für die ihr Ressort gar nicht zuständig ist. Die ehemalige Vorstandsvorsitzende der E.ON-Tochter Westenergie, die erst seit Mai im Amt ist, scheint ihre Konzernmentalität direkt ins Ministerium mitgebracht zu haben. Während das Arbeits- und Sozialministerium unter SPD-Führung für Rentenfragen verantwortlich zeichnet, prescht Reiche mit einem eigens einberufenen Beraterkreis vor und fordert nichts Geringeres als die Abschaffung von Anreizen für einen frühen Ruhestand.
SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf brachte es auf den Punkt: Diese Forderungen finden sich nicht im Koalitionsvertrag. Man fragt sich unweigerlich, ob Frau Reiche den Vertrag überhaupt gelesen hat oder ob sie glaubt, über solche demokratischen Feinheiten erhaben zu sein.
Die demografische Keule als Totschlagargument
Natürlich wird wieder einmal die Demografie als Begründung herangezogen. Bis 2036 würden fast 20 Millionen Menschen der geburtenstarken Jahrgänge das Rentenalter erreichen, heißt es im Papier des ministeriellen Beirats. Diese Argumentation ist so alt wie durchschaubar. Statt über innovative Lösungen nachzudenken, wie etwa eine gerechtere Besteuerung von Vermögen oder die Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die Rentenversicherung, wird reflexartig die Arbeitszeit verlängert.
"Die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung gerät mit dieser demografischen Verschiebung zunehmend unter Druck"
Diese Aussage aus dem Beiratspapier offenbart die ganze Hilflosigkeit der aktuellen Politik. Anstatt das System grundlegend zu reformieren und an die neuen Gegebenheiten anzupassen, sollen die Arbeitnehmer die Zeche zahlen – mit ihrer Lebenszeit.
Die soziale Ungerechtigkeit der Rente mit 70
Besonders perfide ist die soziale Dimension dieser Forderung. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) weist zu Recht darauf hin, dass Menschen mit niedrigen Einkommen im Durchschnitt deutlich kürzer leben als Besserverdienende. Eine Anhebung des Rentenalters trifft also genau jene am härtesten, die ihr Leben lang körperlich hart gearbeitet haben.
Anja Piel vom Deutschen Gewerkschaftsbund bringt es treffend auf den Punkt: Ein höheres Rentenalter sei "nichts anderes als eine Rentenkürzung durch die Hintertür – ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die das Land und ihre Betriebe jahrzehntelang am Laufen gehalten haben". Wer jahrzehntelang auf dem Bau, in der Pflege oder in der Produktion geschuftet hat, kann eben nicht einfach bis 70 weitermachen wie ein Ministerialbeamter im klimatisierten Büro.
Die wahren Alternativen werden verschwiegen
Während Reiche von Wettbewerbsfähigkeit faselt, werden die wirklichen Alternativen konsequent ausgeblendet. Eine stärkere Besteuerung von Vermögen und hohen Einkommen könnte die Rentenkasse entlasten. Die Einbeziehung von Beamten und Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung würde die Basis verbreitern. Doch solche Vorschläge passen nicht ins neoliberale Weltbild einer ehemaligen Konzernmanagerin.
Es ist bezeichnend für den Zustand unserer Politik, dass ausgerechnet eine Ministerin, die für Wirtschaft und nicht für Soziales zuständig ist, meint, den Menschen vorschreiben zu müssen, wie lange sie zu arbeiten haben. Diese Kompetenzüberschreitung zeigt, wie sehr sich die CDU bereits wieder in ihrer alten Rolle als Interessenvertreterin der Wirtschaft eingefunden hat.
Ein Blick in die Zukunft
Die Debatte um die Rente mit 70 ist mehr als nur ein Streit zwischen Koalitionspartnern. Sie zeigt exemplarisch, wohin die Reise geht, wenn Politiker wie Reiche das Sagen haben. Die arbeitende Bevölkerung soll immer länger schuften, während gleichzeitig die Vermögenskonzentration in Deutschland weiter zunimmt.
Es bleibt zu hoffen, dass die SPD diesmal Rückgrat zeigt und sich nicht wieder von der CDU über den Tisch ziehen lässt. Die Menschen in diesem Land haben ein Recht auf einen würdigen Ruhestand nach einem langen Arbeitsleben. Sie haben es nicht verdient, dass ihre Lebenszeit auf dem Altar der Wettbewerbsfähigkeit geopfert wird.
Vielleicht sollte Frau Reiche erst einmal ein paar Jahre auf dem Bau oder in der Altenpflege arbeiten, bevor sie anderen erklärt, dass sie bis 70 durchhalten müssen. Aber vermutlich ist das von einer ehemaligen Konzernchefin zu viel verlangt.

- Kettner Edelmetalle News
- Finanzen
- Wirtschaft
- Politik